DeutschEnglischTschechisch
FacebookYoutube

Alma Johanna König

Werkbeispiel: Der jugendliche Gott

 

Roman von Alma Johanna Koenig, erschienen 1947. Die außerordentlichen Entstehungsbedingungen dieses letzten und wichtigsten Werks der vor allem mit ihren historischen Romanen bekannt gewordenen Autorin sind ihm kaum anzumerken: Als Jüdin geächtet, schrieb Alma Johanna Koenig ihren Nero-Roman von Dezember 1940 bis kurz vor ihrer Deportation im Mai 1942 in Wiener Elendsquartieren, selten allein, zeitweise hungernd und frierend, nahezu ohne Quellenmaterial, ohne jede Aussicht auf eine Veröffentlichung und doch mit äußerster Disziplin und Konzentration. Dank ihres Lebensgefährten Oskar Jan Tauschinski, dem der Roman gewidmet ist, konnte das Manuskript in Abschriften gerettet werden.

 

Seit ihrer frühesten Jugend war Alma Johanna Koenig fasziniert gewesen vom antiken Rom, mit dem sie sich als Erzählerin schon vor dem Ersten Weltkrieg, in einem nur als Manuskript überlieferten Roman Das Buch Petron, und als Lyrikerin in den erotischen Liedern der Fausta (1922) beschäftigt hatte. Auch dem Nero-Stoff hatte sie sich in über drei Jahrzehnten immer wieder angenähert, die entstandenen Niederschriften aber stets vernichtet. Die aktuellen Erfahrungen der Hitler-Diktatur regten sie nun zu einer Neukonzeption an, die vor allem dadurch bemerkenswert ist und sich von anderen Nero-Biographien unterscheidet, dass sie nicht die bekannten Episoden späterer Zeit wie den Brand Roms, die Christenverfolgung oder die Pisonische Verschwörung thematisiert, sondern sich auf die Jugend Neros und die angeblich glückliche Zeit des Quinquenniums beschränkt.

 

Nicht wie der Muttermörder, grausame Despot und skrupellose Christenverfolger war, interessierte die Autorin, sondern wie er wurde, der er war – ein Erzählprinzip, das schon im Motto aus Hebbels Gyges und sein Ring anklingt: „Du sollst mich nicht entschuldigen, / Du sollst nur sagen, wie es kam!“
Der Roman gliedert sich in vier Teile mit den Überschriften Der Knabe, Der Jüngling, Der Kaiser und Nero, die jeweils entscheidende, moralisch abwärts führende Entwicklungsstufen im Leben des „jugendlichen Gotts“ in farbigen, leidenschaftlich gesteigerten Szenen vergegenwärtigen.

 

Vorherrschend ist die Gesprächssituation, so dass über weite Strecken ein dramatischer Eindruck entsteht, doch wird die dialogische Rede der Personen wie überhaupt ihr äußeres Verhalten ständig konterkariert durch Formen des inneren Monologs, durch den die Figuren an psychischer Tiefendimension gewinnen und die wahren Beweggründe ihres uneigentlichen Redens und Handelns entlarvt werden. Nur selten ist zwischen ihnen eine tatsächliche Verständigung möglich.

 

Das Unverständnis und die Lieblosigkeit seiner Umgebung, vor allem aber die Ferne und Kälte seiner ehrgeizigen Mutter Agrippina verdüstern schon die Kindheit des ursprünglich sensiblen und begabten Domitius, der bei seiner Tante Lepida aufwächst und vergebens davon träumt, wie sein geliebter Freund Paris Schauspieler zu werden. Stattdessen bestimmt Agrippina den biederen Philosophen Seneca zu seinem höfischen Erzieher, nachdem Kaiser Claudius sie nach dem Tod seiner Gattin Messalina aus der einst von ihm verhängten Verbannung als seine Frau zu sich gerufen hat, und trennt ihn von Paris. Der fremdbestimmte Jüngling Domitius erhält den Adoptivnamen Claudius Tiberius Nero und muss die Kaisertochter Octavia heiraten; in der Erwartung des Wiedersehens mit Paris vollzieht er die Ehe jedoch nicht.

 

Am Ende des zweiten Teils lässt Agrippina, die befürchtet, ihre Macht über Claudius zu verlieren, diesen durch Gift ermorden, und Nero wird zum Kaiser ausgerufen.

 

In vielfältigen szenischen Darstellungen schildert der Roman im weiteren Verlauf die gegenläufigen Entwicklungen Neros und Agrippinas, wobei das jeweilige Milieu und Machtbewusstsein als wesentliche Faktoren erscheinen. Zwar wird der neue Kaiser anfangs noch von seiner Mutter dirigiert, doch wächst er durch die speichelleckerische Unterwerfung seiner Umgebung bald in die ihm aufgedrängte Rolle eines Usurpators hinein und opponiert gegen Agrippina, indem er sie zunächst bei einem Empfang armenischer Gesandter des Saales verweist und dann sogar die aramäische Freigelassene Akte zu seiner vorübergehenden Geliebten macht.

 

Während er der Mutter noch droht, dem Thron zu entsagen und sein wahres Lebensglück als großer Künstler zu machen, berauscht er sich doch bereits an seiner Rolle als angebeteter Kaiser und überschreitet dann auch rasch die Grenze vom beglückenden Machterlebnis zum Machtmissbrauch, indem er seinen verhassten Stiefbruder und Rivalen Brittanicus vor aller Augen vergiftet. Als er die eigene, noch immer gefürchtete Mutter des Staatsverrats verdächtigt, da diese heimliche Besuche von ihrem Verehrer Plautus, einem Verwandten des Kaiserhauses, empfangen hat, zieht diese sich nach Tusculum zurück.

 

Der letzte Teil zeigt Kaiser Nero auf einem Höhepunkt der Macht und zugleich auf einem moralischen Tiefpunkt. So sucht er incognito nächtliche Vergnügungen in der Suburra und macht vor allem Poppäa Sabina, die knabenhaft schöne, seinem bisexuellen Interesse entsprechende Frau seines Freundes Otho, gewaltsam zu seiner Geliebten; diese willigt trotz der Liebe zu ihrem Mann bald in die Beziehung zu dem grausamen und lüsternen Herrscher ein, weil sie Kaiserin von Rom werden will.

 

Umgekehrt verhält es sich mit Agrippina, die sich – historisch unbelegt, aber im Romanzusammenhang schlüssig – durch das archaische, machtferne Leben auf dem Lande und den Einfluss einfacher und gütiger Menschen positiv gewandelt hat. Sie verbündet sich in einer Liebesbeziehung mit dem gutherzigen Tribun Piso, dem älteren Freund des ermordeten Brittanicus und platonischen Liebhaber Octavias, der ihr in Neros Auftrag eine mißlungene Bildsäule ihres missratenen Sohnes gebracht hat. Vergebens versucht sie, den einst von ihr selbst entfesselten Machtrausch Neros zu zügeln, der für sie längst nicht mehr erreichbar ist und überall echte oder eingebildete Intrigen wittert. Auch in seiner Mutter vermag er nur noch die Gegenspielerin zu sehen, die zu viel weiß und seinen Machtgelüsten im Wege steht, und so beschließt er, ihr in Bajä bei einem letzten Treffen einen tödlichen Hinterhalt auf einem Schiff zu legen. Zwar gelingt es Agrippina, sich schwimmend an Land zu retten, doch stellt sie sich dann selbst unerschrocken den Mördern, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Seneca aber muss erkennen, dass er als moralische Instanz versagt hat.

 

Abgesehen von dichterischen Ausgestaltungen und einigen meist chronologischen Sachfehlern, entspricht der Roman Der jugendliche Gott weitgehend den bekannten historischen Quellen (vor allem Tacitus und Sueton). Auch sonst, vor allem in der differenzierten Darstellung Neros und Agrippinas, zeigt der Roman ein deutliches Bemühen der Autorin um historische Objektivität. Es wäre daher problematisch, vor dem Entstehungshintergrund allzu eindeutige Identifikationen zwischen dem antiken Rom und dem NS-Regime und zwischen Nero und Hitler herzustellen. Wenn dem Leser gleichwohl Parallelen auffallen und einige Forscher das Werk sogar als antifaschistischen Schlüsselroman gewertet haben, so deshalb, weil die von Alma Johanna Koenig präzise nachgezeichneten individuellen und gesellschaftlichen Faktoren für die Herausbildung eines diktatorischen Charakters ebenso wie die geschilderten Formen der Gewaltherrschaft und des Machtmissbrauchs stereotypen psychologischen und soziologischen Mustern folgen, die sich in der Menschheitsgeschichte weitgehend gleichgeblieben sind.

 

 

Zweifellos erkannte Alma Johanna Koenig diese ihr seit ihrer frühen Jugendlektüre vertrauten Muster auf besonders bedrängende Weise in ihrer Gegenwart wieder, aber ihr Roman ist doch weit mehr als ein gegen die braune Diktatur gerichtetes zeitpolitisches Tendenzwerk: Er richtet sich gegen jede Form menschlicher Überhöhung und Erniedrigung und ist in dieser Hinsicht nicht nur aktuell geblieben, sondern eigentlich von zeitlosem Rang.

 

Ausgaben

 

Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay, 1947 (Nachwort von Helene Lahr). – Hamburg, Wien: Zsolnay, 1958 (Jubiläumsausgabe). – Graz, Wien, Köln: Styria, 1980 (Nachwort von Hans Weigel). – Wien, Hamburg: Zsolnay, 1985 (u. d. T. Nero, der jugendliche Gott). – Berlin: Union, 1986 (Nachwort von Oskar Jan Tauschinski).

 

Übersetzungen

 

Boski Neron (polnisch, übersetzt von Anna Kabat). Warszawa: Pax, 2001.

Hörspielfassung: ORF-Wien, 31. 5. 1963 (Wiederholungen am 11. 5. 1965 und 18. 8. 1967); Bearbeitung: Oskar Jan Tauschinski; Regie: Ernst Schönwiese; Mitwirkende: Hans Thimig (Tacitus), Heinrich Schweiger (Nero), Dorothea Neff (Agrippina), Paul Hoffmann (Claudius), Friedl Jary (Octavia), Alma Seidler (Lepida), Heinz Woester (Seneca), Helmut Janatsch (Piso), Eva Zilcher (Akte), Ursula Schult (Poppäa Sabina) u. a.; Dauer: 99’40; Komposition: Felix Schleiffelder.

 

Literatur

 

Stefan H. Kaszynski: Chiffrierter Widerstand oder Innere Emigration. Zu Alma Johanna Koenigs Roman „Der jugendliche Gott“. In: Ders.: Österreich und Mitteleuropa. Kritische Seitenblicke auf die neuere österreichische Literatur. Posnan 1995, S. 159-172; dass. in: Literatur der ‚Inneren Emigration‘ aus Österreich. Hrsg. vonJohann Holzner und Karl Müller. Wien 1998, S. 141-155.

Evelyne Polt-Heinzl: Das Vermächtnis der Alma Johanna Koenig. In: Der literarische Zaunkönig (2004), Nr. 3, S. 15-17.

Evelyne Polt-Heinzl: Zwei historische Romane von Erika Mitterer und Alma Johanna Koenig. In: Dichtung im Schatten der großen Krisen: Erika Mitterers Werk im literaturhistorischen Kontext. Im Auftrag der Erika Mitterer-Gesellschaft herausgegeben von Martin G. Petrowsky unter wissenschaftlicher Beratung von Helga Abret, Marta Gaal-Baroti, Herwig Gottwald und Elaine Martin. Wien 2006, S. 151-180.

 

 

Dieter Sudhoff, Paderborn

Menü

Menü schließen

Gefördert von:

Kontakt
Presse
Newsletter
Datenschutz
Impressum
Sitemap

Diese Website verwendet Cookies auschließlich zur essentiellen Funktionalität, es erfolgt keinerlei automatische Erfassung Ihrer personenbezogenen Daten oder Ihres Nutzungsverhaltens – nähere Informationen hierzu finden Sie unter Datenschutz.

OK