Otokar-Fischer-Preis 2024
Am Donnerstag, 27. Juni 2024 fand die feierliche Verleihung des Otokar-Fischer-Preises im Prager Goethe-Institut statt
Bereits zum fünften Mal wurde der Otokar-Fischer-Preis für herausragende geisteswissenschaftliche Arbeiten mit germanobohemistischer Thematik verliehen. Seit 2020 vergibt das Institut für Literaturforschung (Institut pro studium literatury) den Preis zusammen mit dem Adalbert Stifter Verein. Die Leiterin des Prager Goethe-Instituts Sonja Griegoschewski begrüßte die Gäste, Zuzana Jürgens und Michal Topor (Institut pro studium literatury) eröffneten den Abend, durch den wie schon in den Jahren zuvor der Lyriker, Essayist und Performer Jaromír Typlt führte. Die Geigerin Daniela Matheas lieferte die musikalische Rahmung der Veranstaltung.
Martina Niedhammer (Collegium Carolinum, Jurymitglied OFP) hielt die Laudatio auf die tschechischsprachige Preisträgerin Lenka Kerdová, Štěpán Zbytovský (Karls-Universität Prag, Jurymitglied OFP) jene auf die deutschsprachige Preisträgerin Lena Dorn. Franziska Mayer verlas die lobenden Erwähnungen der Jury.
Der Otokar-Fischer-Preis soll Ende 2025 wieder ausgeschrieben werden.
Die Preisverleihung wurde auch jeweils auf deutsch und tschechisch auf unserem Youtube-Kanal übertragen.
Bilder von der Preisverleihung 2024
Die Daumennägel
Preisträger
Deutschsprachige bohemistische und germanobohemistische Arbeiten
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2024 Lena Sophie Dorn (winner): german
Übersetzungsbewegungen
Zum Verhältnis von Literaturübersetzung und Nation
Lena Sophie Dorn erhält den Otokar-Fischer-Preis für die beste deutschsprachige germanobohemistische Arbeit. Das Buch zeichnet die Übersetzungsdebatten zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen im 19. Jahrhundert nach und zeigt das Doppelgesicht der literarischen Übersetzung in einer Zeit, in der sich die europäischen Nationalliteraturen herauskristallisierten und konsolidierten. Übersetzung und Übersetzen, einerseits selbstverständlich, andererseits Gegenstand polemischer Diskussionen, erwiesen sich sowohl als notwendige Voraussetzung als auch als potenzielle Bedrohung für diese Entwicklung.
Die Jury würdigt das essayistische Geschick, das theoretische Wissen und die argumentative Stärke, mit der die Publikation ihre Thesen belegt, etwa jene, dass die Entstehung von Konzepten der „Nation“ durch Übersetzungen erst möglich wurde. Die Autorin konzipiert „Übersetzungsbewegungen“ als Prozesse, deren ästhetische, soziale und wissenschaftliche Wirkungen sich nicht nur als Vermittlung zwischen sprachlichen Umgebungen beschreiben lassen, sondern auch in paradoxen Effekten und in vielen Richtungen gleichzeitig wirksam werden.
Lena Dorn, geboren 1984, hat Slawistik und Geschichte studiert und arbeitet als Wissenschaftlerin, Übersetzerin, Autorin und Kuratorin. Sie lebt in Berlin und übersetzt Kinderbücher, Sachtexte, Lyrik und Prosa aus dem Tschechischen und Slowakischen. 2021 wurde sie mit dem Sonderpreis Neue Talente des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet.
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2024 Lenka Kerdová (winner): czech
Malý Berlín ve Velké Praze. Pražská meziválečná architektura německy mluvících architektů / Klein-Berlin in Groß-Prag.
Die Prager Architektur deutschsprachiger Architekten in der Zwischenkriegszeit
Lenka Kerdová: Malý Berlín ve Velké Praze. Pražská meziválečná architektura německy mluvících architektů / Klein-Berlin in Groß-Prag. Die Prager Architektur deutschsprachiger Architekten in der Zwischenkriegszeit. Řevnice: Arbor vitae societas 2022
Lenka Kerdová erhält den Otokar-Fischer-Preis für die beste tschechischsprachige germanobohemistische Arbeit. Die Monographie erörtert die Rolle der deutschen Architektur und, in einem breiteren Rahmen, den Einfluss des deutschen kulturellen Milieus auf das tschechische. Sie beschreibt ausführlich ausgewählte Arbeiten deutschsprachiger Architekten im Prag der Zwischenkriegszeit und zeigt deren stilistische Vielfalt, programmatisches Selbstverständnis und Inspirationsquellen auf.
Die Jury würdigt nicht nur die gut lesbare und visuell gelungene zweisprachige Gestaltung des Buches, sondern vor allem die Art und Weise, wie es die wissenschaftlich zuverlässige Interpretation eines wichtigen Teils der Prager und tschechoslowakischen Architekturgeschichte mit relevanten Kontexten – dem Werk tschechischsprachiger Architekten, den Tendenzen der mitteleuropäischen Architekturmoderne und der allgemeinen Geschichte – verbindet.
Lenka Kerdová, geboren 1988 in Jungbunzlau/Mladá Boleslav, ist Kunsttheoretikerin und Kuratorin. Sie studierte Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Prag und Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag; weitere wichtige Stationen ihrer Ausbildung absolvierte sie bei Ruth Noack (Akademie der bildenden Künste in Prag) und Hans Scheirl (Akademie der Bildenden Künste Wien). Bis heute ist sie auch als freischaffende Künstlerin tätig. 2020 schloss sie ihre Promotion in Kunstgeschichte ab und ging als Visiting Fellow ans Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, wo sie seither lebt.
Lobende Erwähnung der Jury
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2024 Zuzana Urválková (appreciation): czech
Tajemství úspěchu. Německojazyčná knižnice Album nakladatele Ignáce Leopolda Kobra v širších literárních souvislostech
Geheimnisse des Erfolgs. Die deutschsprachige Buchreihe Album des Verlegers Ignaz Leopold Kober im breiteren literarischen Kontext
Die Jury würdigt die theoretisch fundierte Interpretation des Verlagsbetriebs und des literarischen Geschehens als vielschichtiges Netz interkultureller und intertextueller Verbindungen, zu dem die Mehrsprachigkeit ganz selbstverständlich gehört.
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2024 Martha Stellmacher (appreciation): german
Von der Altneuschul zum Jerusalemtempel
Musikalische Praxis in Prager Synagogen vom 19. Jahrhundert bis zur Schoah
Für die gelungene Kombination musikwissenschaftlicher, ethnologischer, sozialgeschichtlicher sowie wirtschafts- und religionsgeschichtlicher Perspektiven erhält Martha Stellmacher eine lobende Erwähnung.
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2024 Stefan Johann Schatz (appreciation): german
Unterricht für die „Grenzlanddeutschen“
Das deutschsprachige Schulwesen im Reichsgau Sudetenland 1938–1945
Die Jury würdigt die sachlich dichte und methodisch konsequente Darstellung, die auch die konzeptionellen Hintergründe der Entwicklung des deutschen Bildungswesens in der Zeit des Nationalsozialismus skizziert.
Jury
Prof. Dr. Tomáš Glanc (Slavisches Seminar, Universität Zürich)
Anna Habánová M.A., Ph.D. (Lehrstuhl für Geschichte, Technische Universität, Liberec)
Mgr. Veronika Jičínská, Ph. D. (Institut für Germanistik der J. E. Purkyně-Universität Ústí nad Labem)
Dr. Ines Koeltzsch (Jewish Studies, Central European University Wien)
PhDr. Václav Maidl (ehem. Österreichisches Kulturforum, Prag)
Dr. Martina Niedhammer (Collegium Carolinum München)
Prof. Dr. Alice Stašková (Institut für Germanistische Literaturwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Mgr. Štěpán Zbytovský, Ph.D. (Institut für Germanistik der Karls-Universität, Prag)
Nominierungen
Deutschsprachige bohemistische und germanobohemistische Arbeiten
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2024 Aleksej Tikhonov (nomination): german
Sprachen der Exilgemeinde in Rixdorf (Berlin)
Autorenidentifikation und linguistische Merkmale anhand von tschechischen Manuskripten aus dem 18./19. Jahrhundert
Vor fast 300 Jahren wurden Protestanten und Protestantinnen in Böhmen, Mähren und Schlesien verfolgt. Da sie an ihrem Glauben festhalten wollten, blieb ihnen nur die Flucht. Viele von ihnen gingen nach Preußen. In Berlin und Rixdorf (Berlin-Neukölln) siedelten sich im 18. Jahrhundert mehrere Tausend tschechische Protestantinnen und Protestanten an. Eine der Flüchtlingsgemeinden war die Brüdergemeine. Ihre Mitglieder verfassen bis heute Lebensläufe, die beim Begräbnisritual vorgelesen werden.
Über 180 Biografien aus dem 18./19. Jahrhundert werden mit modernen Methoden der Digital Humanities, aber auch mit philologischer Tiefe untersucht und erzählen mehr, als ihr Inhalt sagt. Es ist eine beispielhafte Geschichte sprachlicher und gesellschaftlicher Integration, die aus heutiger Zeit stammen könnte. Zusätzlich wird zum ersten Mal in der tschechischen Sprachgeschichte der Aspekt von Genderlinguistik in historischen Handschriften beachtet und eine große Sammlung von Manuskripten einer statistischen Analyse unterzogen.
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2024 Felizitas Schaub (nomination): german
Stadtnomaden
Mobilität und die Ordnung der Stadt: Berlin und Prag (1867–1914)
Dichte Migrationsbewegungen und eine hohe innerstädtische Mobilität führten in Berlin und Prag im späten 19. Jahrhundert zu Wahrnehmungen von Unübersichtlichkeit und Überforderung. Felizitas Schaub untersucht mit einem praxisorientierten Ansatz, wie die Verwaltungen und Bevölkerungen die Mobilität verhandelten und welche Lernprozesse, aber auch Strategien des Ausschlusses dadurch in Gang gesetzt wurden. Im Fokus der Untersuchung steht die Frage, wie sich Migranten und Migrantinnen organisierten, um ein gewisses Maß an Stabilität und lebensweltlicher Kontinuität zu schaffen. Welche Formen von Vergemeinschaftung in diesem Prozess entstanden, wird unter anderem an einem Netzwerk zwischen chinesischen Wanderhändlern und deutschen Vermietern veranschaulicht, das exemplarisch aufzeigt, wie kreativ die „Stadtnomaden“ mit restriktiven Bedingungen umgingen.
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2024 Alžběta Peštová (nomination): german
Mährische Moderne
Ein Beitrag zur regionalen Literaturgeschichte der Böhmischen Länder
Als Orte der literarischen Moderne gelten meist nur die Großstädte Paris, London, Berlin oder Wien. Das vorliegende Buch zeigt, dass auch abseits der Metropolen avancierte und sozial engagierte Literatur möglich war. Dazu wird die „Mährische Moderne“ eingehender vorgestellt, eine Autorengruppe zu Beginn des 20. Jhs., die zwar innerhalb der Habsburger Monarchie agierte, aber aufgrund ihrer geographischen Lage auch die poetischen Innovationen des deutschen Kulturraums integrierte. Daraus entstand eine eigenständige Literatur zwischen Wiener Moderne und konsequentem Naturalismus. Neben ästhetischen und narrativen Aspekten kommen dabei zwei Themenschwerpunkte zur Sprache, die den transitorischen Prozess der Moderne diskursiv mitbestimmten: Die Krise der Familie und der nationale Konflikt.
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2024 Lucie Merhautová, Václav Petrbok, Michal Topor (Hrsg.) (nomination): german
Emil Saudek (1876–1941)
Ein Übersetzer und Kulturvermittler zwischen Metropole und Provinz
Der Übersetzer Emil Saudek (1876–1941) gehört zu jenen jüdischen Vermittlern zwischen deutschsprachiger und tschechischer Kultur, deren Leben und Wirken bislang kaum beleuchtet wurde. Der Band stellt Saudeks Biografie in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext und erlaubt spannende Einblicke in das Wien und Prag der Jahrhundertwende sowie die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Emil Saudek wuchs in einer jüdischen Familie in der böhmisch-mährischen Provinz auf, studierte und arbeitete viele Jahre in Wien und ließ sich anschließend in Prag nieder. Neben seiner Beamtentätigkeit übersetzte er die Werke von bedeutenden Autoren wie Otokar Březina, Josef S. Machar oder Tomáš G. Masaryk ins Deutsche und veröffentlichte selbst in tschechisch- und deutschsprachigen Publikationen. Er verkehrte in illustren Kreisen und stand in Kontakt mit zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern seiner Zeit wie Ivan Olbracht, Stefan Zweig, Růžena Svobodová und Hugo von Hofmannsthal. Der Band widmet sich der Biografie sowie der übersetzerischen und publizistischen Tätigkeiten Saudeks. Er war nicht nur ein Vermittler zwischen der deutschsprachigen und tschechischen Kultur, sondern aufgrund seiner Herkunft ebenso ein Vermittler zwischen Provinz und Metropole. Auch die Anfänge der Übersetzungstätigkeiten seines Sohnes Erik. A. Saudek werden behandelt und erlauben einen Ausblick auf das Wirken seines Vaters.
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2024 Hélène Leclerc (nomination): german
Lenka Reinerová und die Zeitschrift Im Herzen Europas
Internationale Kulturbeziehungen während des Prager Frühlings
Die deutschsprachige Kulturzeitschrift Im Herzen Europas wurde in Prag herausgegeben und verfolgte das Ziel, die tschechoslowakische Kultur im deutschsprachigen Ausland bekannt zu machen und in kulturdiplomatischer Mission die Beziehungen zu Österreich und Deutschland zu stärken. Darüber hinaus spiegelt die Zeitschrift die Entwicklungen in der Tschechoslowakei während des Prager Frühlings wider und erlaubt überaus interessante Einblicke in die Liberalisierungsprozesses des tschechoslowakischen Regimes der 1960er Jahre. Hélène Leclerc widmet sich in diesem Band der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ sowohl der Geschichte der Zeitschrift und ihrer Funktion als diplomatischem Instrument in den tschechoslowakisch-deutschen und tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen als auch der Rolle der Schriftstellerin und Journalistin Lenka Reinerová, die Im Herzen Europas als Chefredakteurin maßgeblich beeinflusste.
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2024 Frédéric Bußmann, Philipp Freytag (Hrsg.) (nomination): german
Zwischen Avantgarde und Repression
Tschechische Fotografie 1948–1968
Der Band ist einem bedeutenden Kapitel der Fotogeschichte Tschechiens gewidmet. Die Jahre nach dem sozialistischen Februarumsturz 1948 waren von drastischen staatlichen Repressionen geprägt. Es folgte eine kurze, weit über die Grenzen der Tschechoslowakei hinaus wirkende Phase der Liberalisierung, die mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 abrupt endete. Beiträge von tschechischen und deutschen Fotohistorikern vermitteln einen lebendigen Eindruck von den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Zeit.
Die tschechische Fotografie knüpfte nach 1945 stärker als irgend sonst an die avantgardistische Tradition der Zwischenkriegszeit an. Dies belegen die Werke von Josef Sudek, Vilém Reichmann, Emila Medková, Jan Svoboda und Josef Koudelka beispielhaft. Neben poetischen, das jeweilige Motiv künstlerisch abstrahierenden Fotografien finden sich eindringliche Dokumente der Zeitgeschichte.
Tschechischsprachige bohemistische und germanobohemistische Arbeiten
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2024 Eduard Kubů, Jiří Šouša, Barbora Štolleová a kol. (nomination): czech
Za německou hroudu a zrno. Agrární hnutí Němců v českých zemích období habsburské monarchie
Für deutsche Scholle und Korn. Die Agrarbewegung der Deutschen in den böhmischen Ländern während der Habsburgermonarchie
Die deutsche Landschaft, deren Rolle in der „großen Geschichte“ oft vergessen wird, spielte eine unübersehbare, ja prägende Rolle in der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung der böhmischen Länder. Sie war ein integraler Bestandteil der sozioökonomischen Modernisierungsprozesse und der nationalen Auseinandersetzungen. Das Buch ist eine Interpretation der Entstehung und Entwicklung der deutschen Bauernbewegung während der Habsburgermonarchie, mit Schwerpunkt auf dem damaligen Königreich Böhmen. Es füllt das Wissensvakuum über die bäuerlich-agrarische Emanzipation des deutsch besiedelten Landes nach dem Prinzip des Ständewesens und der Interessengemeinschaft, die in einer eigenständigen politischen Partei (Deutsche Agrarpartei in Böhmen) gipfelte. Sie bietet ein Verständnis für die Identität des deutschen Bauern im Prozess seines staatsbürgerlichen und nationalen Bewusstseins und trägt zum Verständnis der langfristigen Ausrichtung der deutschen Volksgemeinschaft in den böhmischen Ländern insgesamt bei.
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2024 Pavel Janoušek (nomination): czech
Dějiny české literatury v Protektorátu Čechy a Morava
Geschichte der tschechischen Literatur im Protektorat Böhmen und Mähren
Ziel des Buches ist es, zu verstehen, wie sich die tschechische Literatur zwischen September 1938 und Mai 1945 wandelte bzw. wie sie durch Ereignisse wie die deutsche Besatzung, das Protektorat Böhmen und Mähren, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die wechselnde Lage an den Fronten und die Befreiung der Tschechoslowakei verändert und geprägt wurde. Das spezifische innenpolitische „Vorspiel“ zu diesen Ereignissen, d.h. die Zeit nach dem Münchner Abkommen und während der Zweiten Republik, wird nicht ausgespart. Das Buch zeichnet den Zusammenhang zwischen der künstlerischen Wahl der Sujets und den Umständen nach, unter denen sie stattfand. Dabei geht es nicht nur um Literatur im engeren Sinne, d.h. Lyrik, Prosa und Drama mit künstlerischem Anspruch und für Erwachsene, sondern auch um Sach- und Populärliteratur sowie Kinder- und Jugendliteratur. Die Beziehungen zwischen Literatur und Theater, Radio und Film, die literarische Dimension der zeitgenössischen städtischen Folklore und die literarische Bildung in der Schule werden ebenfalls beleuchtet.
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2024 Ivo Habán (nomination): czech
Oskar Spielmann
Brno, Alger, Toulon [Oskar Spielmann. Brünn, Algier, Toulon]
Der in Brünn geborene Oskar Spielmann (1901–1974) war einer der bedeutenden, heute vergessenen tschechisch-deutschen Maler jüdischer Herkunft. Im Jahr 1926 schloss er erfolgreich die Akademie der Bildenden Künste in Prag ab. Nach fünf Jahren aktiver künstlerischer Tätigkeit in der Brünner Kunstszene reiste er jedoch im Sommer 1931 zu einem Studienaufenthalt nach Algerien, das bis 1965 seine neue Heimat wurde. Der Aufenthalt in Nordafrika hat sowohl Inhalt und Form seines künstlerischen Schaffens als auch sein Selbstverständnis tiefgreifend beeinflusst. Dies ist umso komplexer, als er 1940 die französische Staatsbürgerschaft annahm und den Rest seines Lebens als „pied noir“ in Toulon, Südfrankreich, lebte. Als Spielmanns in Nordafrika entstandene Werke Ende der 1930er Jahre in Brünn, Prag und Bratislava ausgestellt wurden, war der Künstler nicht allen Rezensenten und Besuchern der Ausstellungen bekannt. Aus mitteleuropäischer Sicht eröffnete sich ihnen etwas sehr Ungewöhnliches. Mit seiner poetischen Vision der Realität gelang es Spielmann bald, nicht nur das mitteleuropäische Publikum anzusprechen, sondern vor allem die algerische Gesellschaft der Kolonialzeit, die seine subjektiven Interpretationen der nordafrikanischen Realitäten aufnahm und als Teil der kulturellen Produktion der Region in das französische Mutterland exportierte. Die Faszination für Oskar Spielmanns Traumwelten hält bis heute an, und seine Rückkehr in den Kontext der tschechischen Kunst ist sowohl ein wichtiger kultureller Beitrag als auch eine Wiedergutmachung historischer Ungerechtigkeit.
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2024 Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann, Manfred Weinberg (nomination): czech
Kompendium německé literatury českých zemí [Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder]
Die Publikation ist der bedeutendste Kristallisationspunkt und die materialreichste Umsetzung der neuen Herangehensweise an die Literatur dieser Region, die die etablierte Trennung zwischen humanistischer und ästhetisch hochwertiger „Prager“ deutscher Literatur auf der einen und konservativ-nationaler, minderwertiger „Sudeten“-Literatur auf der anderen Seite überwindet. Diese vereinfachende Vorstellung hat tiefere historische Wurzeln, ist aber seit den so genannten Liblice-Konferenzen in den 1960er Jahren nahezu hegemonial etabliert. Das Kompendium versucht dagegen, die Prozesse des kulturellen und literarischen Austauschs im gemeinsamen Raum der böhmischen Länder zu konzeptualisieren und zu beschreiben.
Neben dem Raum ist der Schlüsselbegriff des Buches die Interkulturalität als Herausforderung, die verschiedenen Modelle des Miteinanders, Gegeneinanders, Ineinanders und Nebeneinanders zu verstehen, die in dieser Literatur und ihren Institutionen angewandt wurden. Das Buch konzentriert sich in erster Linie auf die deutschsprachige Literatur der böhmischen Länder, bietet aber dank seines interkulturellen Ansatzes und der grundlegenden Erweiterung des „klassischen“ Kanons der „Prager deutschen Literatur“ einen ganz anderen, vielschichtigen Blick auf die deutsche Literatur der Region und damit eine neue Grundlage für das Nachdenken über die Wechselwirkungen zwischen tschechisch- und deutschsprachiger Literatur in diesem Raum.